
Das Webkunstwerk zählt zum ältesten Handwerk der Menschheit – die ersten Funde datieren bereits 32.000 Jahre zurück. Heutzutage jedoch zählt das Weben am Handwebstuhl zum Kunsthandwerk und wird nur noch von wenigen Menschen beherrscht. In unserer Videoserie Tell me how you learn sprechen wir mit unseren Interviewpartner:innen zum Thema Lernen und über eigene prägende Lernerfahrungen. Dazu besuchten wir im August 2020 den dänischen Webkünstler Martin Nannestad Jørgensen, der uns mehr über seinen Weg als Künstler, Lernender und Bewahrer einer fast ausgestorbenen Tradition erzählte! Hier geht es zum spannenden Videointerview!
„I can only keep up my spirit, if there is a chance of failure!“
“Each time I make a sketch I try to avoid the perfect composition.”
Perfektion ist nicht erstrebenswert

© Copyright by Dorte Krogh
Der in Schweden geborene Künstler Jørgensen lernte sein Handwerk bei Meister:innen in Kopenhagen, Guatemala und zuletzt bei Shizuko Oshiro in Japan. Er bekam seinen ersten Webrahmen mit vier Jahren und hielt auch die nächsten sechzig Jahre unermüdlich an seiner Leidenschaft fest! Um über Jahrzehnte hinweg motiviert zu bleiben und nicht aufzugeben, ist es aus seiner Sicht wichtig, keine Angst vor Fehlern zu haben! Ganz im Gegenteil, Jørgensen nimmt das Risiko als Antrieb, um seine einzigartigen Webkunstwerke herzustellen. Seine größte Lernerfahrung dabei: Perfektion ist nicht erstrebenswert, die kleinen Unzulänglichkeiten und Fehler machen ein Projekt erst zu etwas Besonderem.
Die wilden 70er
Jørgensen schätzt sich sehr glücklich, in den vibrierenden 70er-Jahren aufgewachsen zu sein. Die Aufbruchstimmung, Experimentierfreude und Lust am Kreativsein übertrug sich auf den damaligen Teenager. Von Anfang an war er fasziniert von natürlichen Farben und Textilien und dem Webhandwerk – als Künstler sah er sich jedoch nicht, zu weit und unerreichbar schien die exklusive Kunstwelt für ihn, der in einer Provinz aufgewachsen war. Nur durch die Hintertür gelangte er schließlich dorthin: Indem er die Faszination für das Weben mit seiner Leidenschaft für Kunst zusammenführte.
Die Natur und der Zufall
Der Zufall spielt eine große Rolle in seiner Kunst: Jørgensens einzigartige Kompositionen scheinen der Natur entnommen und sind kein Ergebnis intellektueller Vorarbeit. Zunächst fotografiert er und hält die Natur und ihre Erscheinungen auf Kamera fest. Wenn die Bilder seine Gedankenwelt und anschließend seinen Computer durchlaufen haben, manifestiert sich langsam das zukünftige Webstück. Erst dann wird es eine bewusste Komposition, doch der Ursprung liegt, wie er sagt, in der „Unschuld“ der Natur und ist unmöglich von Menschen zu erschaffen.
“My biggest challenge: To make a tapestry that is worth making it and is not just a repetition of what I am good at. “
Von der kleinen Idee zum großen Webkunstwerk

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Der Sketching-Prozess kann 14 Tage oder auch einige Monate dauern, je nach Größe des Kunstwerks. In einer aufwendigen Prozedur färbt er zunächst das Garn in all seinen Schattierungen von Hand. Am Webrahmen selbst erweckt er dann die Ursprungsskizze zum Leben, doch ist das Webkunstwerk eine permanente Neuinterpretation der anfänglichen Skizze, und es kann passieren, dass plötzlich Muster entstehen, die so gar nicht vorgesehen waren und damit den Zufall der Natur abbilden. Wie er über lange Zeitstrecken so lange am Webrahmen stehen kann? Die Antwort ist für ihn ganz einfach: Weil nie Langeweile aufkommt, seine Arbeit nimmt ihn so sehr in Anspruch, dass er sogar an den Wochenenden nicht abschalten kann. Das ist für ihn auch gut so, denn er darf keine Pausen einlegen, um visuelle Brüche im Webstück zu vermeiden. Am Ende des nahezu fieberhaftes Webens steht die Belohnung: das Abschneiden des Webteppichs vom Rahmen. Erst dann kann er sich selbst vom Kunstwerk lösen und an das nächste Projekt machen.
Für Jørgensen liegt die Herausforderung jedoch immer darin, ein Webkunstwerk herzustellen, das keine bloße Wiederholung dessen ist, was er schon zuvor gemacht hat und sich und seine Fähigkeiten jedes Mal aufs Neue unter Beweis zu stellen.
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